von Klaus Gackstädter und Karlheinz Reimann,
geschrieben im Januar 2010 (1), aktualisiert im Dezember 2019
Der Chemnitzer Stadtteil Adelsberg beging im Jahr 2009 mit einer Veranstaltungsreihe sein 75-jähriges Bestehen unter diesem Namen. Florian Morgenstern vom Heimatverein Adelsberg blickte am Ende mit dem Resümee „Ein gelungenes Menü" auf das Festjahr zurück. Zum Vortrag über die Stasi in Adelsberg schrieb er: „Karlheinz Reimann servierte eine schwer verdauliche Kost, die so manchem noch heute im Magen liegen dürfte. Er beschrieb in seinem Vortrag die Zeit des stabilen Grauens in Adelsberg und blickte hinter so manche Tür auf dem ehemaligen Stasi-Gelände. Dass die Menschen mit diesem Thema nicht abgeschlossen haben, zeigte die überfüllte Kirche an diesem Abend". (2)
Einladung zum Vortrag von Karlheinz Reimann in der Kirche Adelsberg (Bild: Florian Morgenstern)
Das Thema „Stasi in Adelsberg" stieß auf viel Interesse, und so war die Adelsberger Kirche am Abend des 4. November 2009 bis auf den letzten Platz gefüllt. Karlheinz Reimann aus Kleinolbersdorf, der 1990 an der Auflösung des „Dienstobjektes2" in Adelsberg beteiligt war, hatte mit einem Forschungsauftrag des Stadtarchivs Chemnitz in der BStU-Außenstelle Chemnitz intensiv recherchiert und auf Einladung von Pfarrer Daniel Förster zur Veranstaltungsreihe „Adelsberg 75" mit der technischen Unterstützung von Christian Drossel darüber einen Vortrag vorbereitet. Nach einem Überblick über das Ministerium für Staatssicherheit im Bezirk und der Stadt Karl-Marx-Stadt erläuterte Herr Reimann mit vielen Bildern die Bebauung des Adelsberger Stasi-Geländes mit Bürogebäuden, Bunkern und Nachrichtenanlagen und stellte die hier untergebrachten Diensteinheiten und ihre Aufgaben dar. Erstaunen rief die geplante Vergrößerung des Stasi-Objektes hervor, nach der das Gelände über die Zschopauer Straße hinaus nach Reichenhain bis zur Jägerschlösschenstraße ausgedehnt werden sollte – der Stahlgitterturm und einige private Häuser an der Gornauer Straße sollten nach dem Bebauungsplan des MfS künftig zum Stasi-Gelände gehören.
Vortrag von Karlheinz Reimann in der Kirche Adelsberg (Bild: Peter Gagstädter)
Auf dem Gelände in Adelsberg befand sich unter anderem ein Kurzwellensendezentrum für Mitteilungen der Zentrale an die „Kundschafter" der „Auslandsaufklärung" des MfS im westlichen Ausland bis in die Bundesregierung. Die Anwohner der in der Nähe des Objektes gelegenen Straßen wurden aus Angst vor Einblick und Auskundung des Geländes besonders stark überwacht, wie die nach Namen erfassten über 10.000 Seiten Akten belegen. Die Stasi durchsuchte heimlich private Räumlichkeiten von Anwohnern und sammelte akribisch jede Information über Verwandtenbesuche aus der Bundesrepublik, dem westlichen „Operationsgebiet". Aus einem Tondokument der Stasi-Bezirksverwaltung wurden Ausschnitte aus der letzten Dienstberatung von Generalleutnant Gehlert am 4. Dezember 1989 wiedergegeben, aus denen die desolate Situation der Stasi Karl-Marx-Stadt deutlich wurde und die von den Besuchern der Veranstaltung mit Verwunderung und Erheiterung aufgenommen wurden. In den ersten Monaten des Jahres 1990 wurden die Dienststellen des MfS-Nachfolgers AfNS (Amt für Nationale Sicherheit) in Adelsberg aufgelöst.
Nach dem Vortrag beantworteten Karlheinz Reimann und Lothar Raschker, Stellvertreter des Leiters der BStU-Außenstelle Chemnitz, viele Fragen interessierter Besucher.
Tondokument anklicken! Letzte Dienstberatung MfS Karl-Marx-Stadt.MP3
Karlheinz Reimann zum Tondokument:
Dieses historisch bedeutsame Tondokument zeigt einen Ausschnitt aus der letzten Dienstberatung der MfS-Bezirksverwaltung Karl-Marx-Stadt am 4. Dezember 1989. Zunächst spricht der Stasi-Chef von Karl-Marx-Stadt, Generalleutnant Siegfried Gehlert: "Mit den Enthüllungen ... nimmt der Haß auf die Mitarbeiter dieses Ministeriums dermaßen zu ... wir können doch nicht zusehen, dass man uns identifiziert mit den Verbrechern da oben ... " Danach ergreift Peter Bombik, Sekretär der Zentralen SED-Parteileitung der Stasi-Bezirksverwaltung das Wort: "Ich habe im Prinzip überhaupt keine andere Meinung. Aber das Schlimmste, was uns passieren kann ist, dass wir in Panik verfallen ... " Im weitern Verlauf spricht Gehlert über die künftige Tätigkeit der Stasi-Mitarbeiter: "...egal, ob wir Flaschen abfüllen, als Kraftfahrer arbeiten, in die Justiz gehen, zum Zoll, zur Polizei ..." und Bombik erläutert die Bildung einer PGH Kraftfahrzeuginstandsetzung: "... der Genosse Koch ist, wenn ich richtig informiert bin ... Ingenierökonom ... von der Ökonomie hast du nicht viel Ahnung und von der Ingenieurerei auch nicht, aber du bist's nun mal ... und da wird der Genosse Koch Vorsitzender der PGH ... so und da wirst du noch mehr Geld verdienen, als du jetzt verdienst ... " mit hämischem Lachen, und weiter "weil die Menschen so gemein sind, dass sie es ... nicht verdient haben, dass wir noch einen Schritt tun, um uns für unsere aufopferungsvolle Arbeit als Verbrecher abstempeln zu lassen".
Niemals vorher war die Stasi Karl-Marx-Stadt in einer derartig desolaten Verfassung wie zu dieser letzten Dienstberatung. Mit Verwunderung schaut man auf das Bild von sich selbst, das die oberste Stasi-Führung - immerhin ein General - hier demonstriert. Die Stasi, vor der so viele Menschen so viele Jahre so große Angst hatten. Begründete Angst, angesichts der Verknüpfung dieses Eigenbildes und ihrer fast unbegrenzten Macht.
Dabei war die Entmachtung der Stasi und von General Gehlert 1989 bereits der zweite Zusammenbruch seiner Weltanschauung in seinem Leben. 1943 - im Jahr des Desasters der Nazis von Stalingrad - war Siegfried Gehlert in die NSdAP eingetreten und hat als Funker der Wehrmacht an der Ostfront gegen die Rote Armee gekämpft. In sowjetischer Kriegsgefangenschaft ist seine Umerziehung erfolgt und er hat nach seiner Entlassung 1948 seine Karriere in der DDR zunächst bei der Volkspolizei begonnen (3).
Zwei Tage nach dieser letzten Dienstberatung wurde Generalleutnant Gehlert entlassen und erhielt eine Abfindung von 52.250 Mark/DDR, die mit der Einführung der DM am 1. Juli 1990 zu etwa 26.125 DM geworden sind. Bis zum 15. Januar 1990 musste die Stasi sämtliche Waffen übergeben. Im Januar 2010 ist Gehlert in Chemnitz gestorben und auf dem Städtischen Friedhof Reichenhain namenlos beigesetzt worden.
(Die Veröffentlichung des Tondokumentes hier erfolgt mit freundlicher Genehmigung der BStU-Außenstelle Chemnitz, archiviert unter der Signatur: BStU, MfS BV KMST/KA/1(Z) )
Anmerkungen:
(1) Gagstädter, Klaus, Heimat- und Stadtteilzeitung "Adelsberger", Januar/Februar 2010
Seite 11
(2) Morgenstern, Florian, in Lokalanzeiger "Blick", im Januar 2010
(3) Käbisch, Edmund "Lange Schatten meiner Stasi-Bearbeiter", Editions La Colombe,
Moers 2019, Seite 214