von Karlheinz Reimann,

geschrieben im Juli 2008

Der Gasthof Kleinolbersdorf, mit vielen Feldsteinen wahrscheinlich um 1883 erbaut, muss von Anfang an ein geschäftiger Ort im Dorf und eine gute Adresse für Ausflügler aus Chemnitz gewesen sein. Verband er doch in idealer Weise im Erdgeschoss auf der rechten Seite die Gaststube mit später in Holz angebauter Veranda und kleinem Biergarten, auf der linken Seite die Fleischerei mit Schlachthaus und im Obergeschoss den Festsaal für 200 Personen, in dem auch eine richtige Bühne mit Seitenaufgängen vorhanden war. Die Fleischerei versprach in der Gaststube ein preiswertes und „deftiges Essen" mit „guter Brühe", was von Anbeginn über viele Jahrzehnte für viele Gäste ein gewichtiger Grund war, hier einzukehren. Und wenn am Samstagabend oder zu Feiertagen eine Kapelle zum Tanz aufspielte, strömten die Dörfler zu Jubel-Trubel-Heiterkeit (am späteren Abend auch mit gelegentlicher Klopperei) herbei.

„Eine eigene Blaskapelle gab es im Dorf, in der Richard Weiß, Hans Haase, Paul Richter und Willy Fischer auch zum Tanz spielten. Sie zerfiel, als die ersten Männer zum Kriegsbeginn 1939 eingezogen wurden", erinnert sich Werner Schaarschmidt.

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   Gasthof um 1932 (Bild: Hardy Vogel)

Die Fleischerei wurde während des Krieges und danach von Hans Sachse, Erich Schmid und 1952 bis 1975 von Gerhard Arnold betrieben. Der Laden war sehr klein. Mit einem Dutzend Frauen in Doppelreihe – den geduldig ausharrenden Kindern reichte der Fleischermeister gelegentlich ein frisches Wiener Würstchen zum Reinbeißen über die Glasvitrine – war die Ladentür nur noch beschwerlich zu öffnen. Der Rest der Warteschlange stand auf der Straße an. Deshalb hat Gerhard Arnold auch viel an die Haustür geliefert. „Donnerstags bestellen, samstags ausfahren" hieß das Motto. Im Handwagen bis zur Sternmühle, zum Adelsbergturm und zur Krieger-Siedlung an der Zschopauer Straße wurde geliefert und kassiert, selbstverständlich auch bei Wind und Wetter. "Zum Adelsbergturm haben wir im Winter manchmal ein Pferd vor den Wagen gespannt", erzählt Christa Schwarz, damals als Christa Brödner weit und breit bekannt. Als junge Frau hatte sie mit dieser schweren Arbeit begonnen und 23 Jahre ihres Arbeitslebens in der Fleischerei verbracht. In der Nachkriegszeit brachten die Einwohner gegen Jahresende ihre Haustiere wie Schafe, Ziegen, Gänse, Puten oder Kaninchen ins Schlachthaus. Für mich war es ein trauriger Tag, als ich unsere Ziege, meinen Spielkameraden vom Sommer in Wald und Flur, dorthin bringen musste. Die Ära der Fleischerei ging 1975 mit Gerhard Arnold zu Ende. Danach führte der Laden mit stundenweisem Verkauf als Filiale der Altenhainer Fleischerei Fischer nur noch ein Schattendasein. 

Ein Höhepunkt im Dorf war in den ersten Nachkriegsjahren alljährlich im Herbst die Kirmes auf dem Platz vor dem Gasthof. „In der Mitte zwischen Gasthof und der gegenüber stehenden Scheune war immer das Karussell aufgebaut, zum letzten Mal 1955", hat Brigitte Stoll in guter Erinnerung. Ringsum waren Losbude, Ratzbude, Wurfbude, Schiffschaukel und eine Jahrmarktsorgel aufgebaut, deren Musik gespeichert durch Löcher in einem Stapel gefalteter Pappen, einem Leporello-Stapel, in den Ohren dröhnte. Flaschenbier für die Männer und eine scheußliche Fassbrause für uns Kinder gab es gegenüber im Gasthof. An belegte Brötchen oder heiße Würstchen kann ich mich zu dieser Zeit, anfangs noch mit Lebensmittelkarten, nicht erinnern. Aber schön war es doch, und der Rummel hat uns Kinder den Hunger eine Zeitlang vergessen lassen.

Das ganz Besondere aber war in den Nachkriegsjahren das kulturelle Leben im Dorf. Mit Begeisterung, Aufopferung und Intelligenz wurde es von vielen Einwohnern organisiert und gestaltet, begünstigt durch das Vorhandensein des Saales mit Bühne im Gasthof. Viele Namen wären hier zu nennen, von denen nur die Alteinwohner noch Bilder vor Augen haben. Die Aufzählung wird mir nur unvollständig gelingen – ich bitte um Nachsicht oder Ergänzung in einer Mitteilung an mich. Bereits Ende 1945 oder Anfang 1946 kam der Landfilm ins Dorf. Einmal oder zweimal im Monat verwandelte sich der Saal in ein Kino, vor der Bühne war eine große Leinwand aufgestellt. Der „Augenzeuge" brachte Bilder von Enttrümmerung und beginnendem Wiederaufbau in den Städten, vom Kampf der Braunkohlekumpel um die Brennstoffversorgung und der Ernteschlacht von Bauern mit Helfern aus der Industrie auf den Feldern. Ohne Fernsehen war das damals alles interessant. Anspruchsvolle Filme wie „Die Mörder sind unter uns" oder leichte Muse wie „Moselfahrt mit Monika" – Deutschland erschien noch ungeteilt und man tingelte auch im Osten noch ideologisch unbelastet durch die reizvolle Mosellandschaft im Westen – füllten für wenige Groschen zuweilen den Saal bis auf den letzten Stuhl. Der damals berühmte Zauberkünstler „Maru" gastierte zweimal in Kleinolbersdorf, der Saal war zum Brechen voll und auf der schweren Steintreppe nach oben ein einziges Gedränge, um letzte Plätze zu ergattern. Regelmäßig traf sich ein Kreis von Frauen und Männern mit ihren Instrumenten und übte in einer Musikgruppe. Unter Leitung von Alfred Schreiber gab es einen Volkschor, der nicht nur im Dorf, sondern auch in umliegenden Ortschaften stark beachtete Auftritte zu verzeichnen hatte. Sehr große Anerkennung für sein Engagement in der Kulturarbeit hat sich damals Hans Griesheimer erworben. Er hat eine Ortsbücherei aufgebaut und viele Jahre gepflegt und geleitet. Goethe und Schiller standen bei ihm hoch im Kurs, Straßennamen in der Gartenstadt erinnern noch heute daran, auch wenn nach späterem Verständnis (oder besser Unverständnis) anderer zeitweilig Goethe zugunsten eines Georg Hofmann in Ungnade gefallen war. Noch größer war Hans Griesheimers Einsatz für den Theaterring des Dorfes, der zuweilen um die 80 ständige Teilnehmer hatte. Zur Einführung in anspruchsvolle Theateraufführungen konnte er mehrmals den Intendanten der Städtischen Theater nach Kleinolbersdorf holen. Auch unter schwierigen Bedingungen in damaliger Zeit hat er oft einen Sonderbus für den Theaterbesuch im Opernhaus oder Schauspielhaus organisiert. Wenn dies aber nicht möglich war, ging keiner vor Ende der Vorstellung nach Hause. Von der Straßenbahnendstelle Bernsdorf wurde in Grüppchen nach Kleinolbersdorf gelaufen und munter geschwätzt, die Wegzeit verging wie im Flug. Festveranstaltungen an Feiertagen, zur Schillerehrung oder zum zehnjährigen Bestehen der Volkskunstgruppen Kleinolbersdorf 1958 wurden kulturell niveauvoll gestaltet. Mancher der Älteren wird sich da noch an Rezitationen erinnern, vorgetragen von Hans Ruttloff mit seiner sehr tiefen Bass-Stimme, wobei es im gut besuchten Saal mucksmäuschenstill war.

In späterer Zeit unerreicht und heute kaum noch vorstellbar waren die Erfolge des Laienspielzirkels unter der Leitung von Margarete Palmer. Ich habe Helmut Graupner gebeten, noch einmal im Gespräch auf diese Zeit zurückzuschauen. Er hatte damals als Malermeister die Bühnenbildgestaltung und technische Leitung des dramatischen Zirkels übernommen. Was er mir eröffnet, ist mehr als ich erwarten konnte. Gedruckte Programmflyer als Eintrittskarte, Fotos und Zeitungsausschnitte von den meisten Aufführungen liegen auf seinem Tisch. Um eine Vorstellung zu vermitteln, was da einstudiert und aufgeführt worden ist, muss ich hier aufzählen: 1950 „Kater Lampe", eine Komödie von Emil Rosenow; 1952 „Die Deutschen Kleinstädter", ein Lustspiel von A. v. Kotzebue; 1952 „Der Hamit trei", ein volkstümlicher Abend mit Spiel, Gesang und Musik in unserem Erzgebirge nach Emil Müller, ergänzt von Margarete Palmer und Alfred Schreiber; 1954 „Der Biberpelz", eine Diebeskomödie von Gerhart Hauptmann; 1957 „Frauen können auch denken", ein Lustspiel von Karla Dannowski; 1957 „s Herz in der Lederhose", ein oberbayrisches Lustspiel von M. Vitus; 1958 „Der Arzt wider Willen", ein köstliches Lustspiel von Molière und weiter „Der Raritätenmann", eine vom Zirkel geschriebene Reihe von neun humorvollen Geschichten aus Sachsen und dem Erzgebirge, einstudiert von Charlotte Fichtner, wobei ausschließlich Schülerinnen und Schüler auf der Bühne standen. Ein bei Werner Schaaschmidt erhaltenes Foto zeigt den aktiven Kern des Zirkels (von links nach rechts): Herbert Müller, Emil Ußner, Hans Ruttloff, Walter Palmer, Werner Schaarschmidt, Christa Opitz, Leni Müller, Gretel Palmer und Paul Seidel.

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   Mitglieder des dramatischen Zirkels um 1954  (Bild: Werner Schaarschmidt)

Sie alle und andere haben sich damals in die Herzen der Einwohner gespielt, ihnen fröhliche Stunden bereitet, für einen Abend den Mangel an vielem vergessen gemacht, die Menschen zu einer Dorfgemeinschaft zusammengeführt. „Einfach war das nicht, viele Schwierigkeiten mussten überwunden werden: Geeigneter Stoff für einen Bühnenvorhang war zu "organisieren". Der Dorfschmied Alfred Fassl hat die große Eisenstange für den Vorhang hergestellt. Der Stellmacher Richard Weiß hat die Lattengestelle gebaut, auf denen ich die auf Packpapier gemalten Bühnenbilder befestigen konnte. Für manche Aufführungen war die Bühne zu klein, also hat der Stellmacher Holzböcke gebaut, mit denen der Bühnenfußboden in den Zuschauerraum hinein erweitert werden konnte", weiß Helmut Graupner zu berichten. Und auch die Laienspieler litten damals oft Hunger. „Wenn die Schmids nach der Probe für uns einen Topf mit Pellkartoffeln und eine Schüssel Quark auf den Tisch stellten, war die Freude groß. Sie ließen sich immer wieder mal so etwas einfallen", ergänzt Helmut Graupner. Am Ende standen schöne Erfolgserlebnisse, an die Laienspieler und Zuschauer gern zurückdenken. Leider sind viele von ihnen nicht mehr am Leben, und vieles ist in Vergessenheit geraten.

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   Laienspieler in "Der Biberpelz"   (Bild:  Helmut Graupner)

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     Eintrittskarte zu "Die deutschen Kleinstädter"  (Bild: Helmut Graupner)

„Was ist nun damals aus dem kulturellem Aufschwung im Dorf geworden?", frage ich. Nachdenklich und mit Bedauern kommen Antworten: „Der Niedergang begann mit der Gründung des Dorfclubs, mit dem frischer Wind einziehen und alles auf eine neue Basis gestellt werden sollte", meint Bernd Müller, der damals bereits als Schüler auf der Bühne stand, etwas unscharf. Andere bringen es auf den Punkt: Nachdem den Sängern im Chor vorgeschrieben wurde, was sie singen sollten und was nicht (das alte Volkslied „Die Gedanken sind frei, wer kann sie erraten..." galt bereits als suspekt), verloren die Sänger die Lust am Singen und der eine oder andere sprang ab. Es fehlte aber später auch ein geeigneter Chorleiter, und der Chor löste sich schließlich auf. Auch Helmut Graupner verweist auf Unmut im Zirkel durch das Hineinregieren von außen, wodurch den Laienspielern die Freude an freier und kreativer Arbeit genommen wurde und sie sich bevormundet fühlten. In den sechziger Jahren hat es jedenfalls keine Aufführungen des dramatischen Zirkels mehr gegeben, die Gruppe ist allmählich zerfallen. In den siebziger und achtziger Jahren ist aber auch der im Besitz der Gemeinde befindliche Gasthof Stück um Stück heruntergekommen. Werterhaltungsarbeiten wurden nicht durchgeführt, die Bausubstanz dem Verfall preisgegeben, der Saal musste baupolizeilich gesperrt werden und war viele Jahre für Veranstaltungen nicht mehr verfügbar. Die Toiletten sind schon immer eine mittlere Katastrophe gewesen. Der Betrieb der Gastwirtschaft lief mehr schlecht als recht und wurde vom letzten Pächter schließlich aufgegeben. In den letzten Jahren vor der Wende wurde die Gaststube als Schülergaststätte genutzt und in der vorhandenen Küche unter aus heutiger Sicht nicht zulässigen Bedingungen für Hort und Kindergarten Mittagessen zubereitet. Nach der politischen Wende 1989 verfügte die Gemeinde nicht über die erforderlichen Finanzmittel zur Sanierung des Gasthofes. Die neue Gemeindevertretung beschloss deshalb, das Anwesen zum Wiederaufbau mit privaten Mitteln zu verkaufen. Dem Nutzungskonzept von Eva und Frank le Beau  stimmten die Gemeindevertreter zu. Beim Bau stellte sich heraus, das Gebäude war schlimmer verfallen, als man bis dahin eingeschätzt hatte: Selbst die Umfassungsmauern konnten nur zum Teil für den Wiederaufbau gerettet werden. Einige wenige, die sich mit den Verhältnissen der neuen Zeit nicht anfreunden konnten, hielt das nicht davon ab, der neuen Gemeindevertretung nachzureden, sie hätte nun auch noch den Gasthof kaputt gemacht. Mit viel Mut zum unternehmerischen Risiko, großem finanziellen Aufwand und den Krediten einer Bank ist mit Eva und Frank le Beau als Eigentümer das „Hotel und Restaurant Kleinolbersdorf" seit März 1993 schöner als jemals vorher neu erstanden. Es wird durch das Team des Hauses mit viel Engagement und Kompetenz betrieben. Heute ist es wieder eine gute Adresse für einen angenehmen Aufenthalt mit stilvoll gestalteten Zimmern und gepflegtem Ambiente. Eine gute Küche bietet ausgezeichnete Speisen und Getränke im angenehmen Flair der Gaststube oder auf der Terrasse. Service in englischer oder tschechischer Sprache gehören bei ihnen zum Standard. Auch thematische Abende mit gastronomischer und kultureller Umrahmung im Restaurant sind im Jahresprogramm zu finden. Der heutige Besitzer Hardy Vogel ist bestrebt, dieses Konzept nach seinen Vorstellungen fortzusetzen.

Mit dem heute erfolgreichen Schwarzbachchor von Kleinolbersdorf-Altenhain wurde eine alte Tradition wiederbelebt und weiterentwickelt. Aber das Feuer eines vielfältigen kulturellen Wirkens der Einwohner des Dorfes wie einst im alten Gasthof ist erloschen und lebt nur in der Erinnerung älterer Einwohner – solange sich noch jemand daran erinnern kann.